Komplexes Phänomen mit vielen Gesichtern

    Etwas mehr als 615’000 Armutsbetroffene leben in der Schweiz. Das entspricht zirka 7,5 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung. Welche sind die Risikogruppen in unserer Region? Wir haben uns mit Lea Wirz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin vom Kantonalen Sozialamt Basel-Land, unterhalten.

    (Bild: PEXELS ) Armut ist ein sehr komplexes Phänomen und kennt viele Gesichter. Neben dem physischen Überleben soll ein Mindestmass an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht werden.

    Arm ist, wer mit seinen Einnahmen den gesetzlich festgelegten Grundbedarf für Lebensunterhalt, Wohnkosten und obligatorischer Krankenversicherung für sich – und für seine Familie – nicht finanzieren kann, heisst es in einem Arbeitspapier der Caritas Beider Basel. Oft bedeute Armut für die Betroffenen auch ein Leben in prekären Verhältnissen. Dies beziehe sich unter anderem auf gesundheitliche Probleme, eine schwierige Wohnsituation, auf prekäre Arbeitsbedingungen, fehlende Berufsbildung und angespannte Familienverhältnisse. Armutsbetroffenen mangelt es an Handlungsperspektiven und Lebenschancen.

    Immer häufiger auftretende Ursachen von Armut sind Langzeitarbeitslosigkeit, die Folgen eines Unfalls, die eingeschränkte Berufstätigkeit aufgrund der Geburt eines Kindes sowie die Trennung von Eltern oder der Tod eines Familienmitgliedes. Und in der fehlenden Bildung, ohne nachobligatorische Ausbildung, ist das Risiko doppelt so hoch, armutsbetroffen zu sein.

    Nebst Kinder aus armutsbetroffenen Familien gehören Alleinerziehende, Unterhaltspflichtige, Familien mit drei und mehr Kindern, wenig qualifizierte Arbeitnehmende, Migrantinnen und Migranten sowie Alleinstehende zu den Risikogruppen.

    Zudem stehen besonders die IV und die AHV unter Spardruck. Im Kanton Basel-Landschaft wird dem Armutsrisiko für Familien mit der Initiative «Ergänzungsleistungen für Familien mit geringen Einkommen» begegnet.

    Die Situation in Basel-Stadt und Basel-Landschaft
    Die Sozialhilfequote des Kantons Basel-Stadt lag für das Jahr 2018 bei 6,89 Prozent, was 13’698 Bezüger/-innen entspricht. Im Kanton Basel-Landschaft erhielten drei Prozent der Kantonsbevölkerung (8’560 Personen) Unterstützungsleistungen. Aus Studien ist bekannt, dass noch viel mehr Menschen unter dem Existenzminimum leben. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der bezugsberechtigten Personen keine Sozialhilfe beziehen (Quelle Caritas). Im Kanton Basel-Landschaft leben rund 17’000 Menschen unterhalb des sozialen Existenzminimums, darunter rund 6000 Kinder bis 17 Jahre. In der Regel haben zirka 50 Prozent der Dossiers in der Sozialhilfe eine Laufzeit von weniger als zwei Jahren. Die Wahrscheinlichkeit sich wieder von der Sozialhilfe zu lösen ist in den ersten Jahren höher.

    Frau Lea Wirz, wie sieht die Armut aus Ihrer Sicht als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in unserer Region aus?
    Lea Wirz: Im Vergleich zur Gesamtschweiz sind weniger Menschen auf kantonale Bedarfsleistungen angewiesen. Die Sozialhilfequote des Kantons Basel-Landschaft liegt im Jahr 2017 mit 3 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt von 3.3 Prozent. Alleinerziehende, geschiedene Ausländerinnen sowie Kinder und Jugendliche sind überproportional häufig von der Sozialhilfe abhängig. Etwa jede fünfte Person, die Sozialhilfe bezieht, ist erwerbstätig oder lebt in einem Haushalt, in dem mindestens eine unterstützte Person erwerbstätig ist.

    (Bild: PEXELS) Armut bedeutet nicht nur das Leben am Existenzminimum wegen finanziellen oder materiellen Nöten. Häufig geht es auch um Handlungs- und Perspektivlosigkeit sowie so genannter «sozialer Armut».

    Wie definieren Sie Armut?
    Lea Wirz: Armut ist ein sehr komplexes Phänomen und kennt viele Gesichter. Neben dem physischen Überleben soll ein Mindestmass an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht werden. Für die Berechnung des Existenzminimums werden in der Sozialhilfe die Kosten für Miete, obligatorische Krankenversicherung sowie den Grundbedarf für den Lebensunterhalt berücksichtigt. Weiter werden situationsbedingte Leistungen, wie beispielsweise Berufsauslagen, die Integration oder externe Betreuung von Kindern berücksichtigt. Aber eine materielle Armut geht oft auch mit anderen Folgen einher: sozialer Ausschluss, kein Zugang zu Freizeitaktivitäten. Auch gibt es viele Menschen, die trotz Arbeit nicht genug Geld haben, um zu leben – man redet dabei von den «working poor».

    Welche Stadtteile und Gemeinden sind besonders stark von der Armut betroffen und warum?
    Lea Wirz: Die Sozialhilfequote in den Gemeinden geht weit auseinander. Im Allgemeinen ist festzuhalten, dass kleine Gemeinden eine tiefe Sozialhilfequote haben. Die höchste Sozialhilfequote weist Liestal mit 6,4 Prozent auf. Die Sozialhilfequote in den Gemeinden ist bekanntlich nicht monokausal erklärbar. Es spielen Faktoren wie die Bevölkerungsstruktur, Zentrums- respektive Peripherielage der Gemeinde, regionale Zentrumsfunktion, Erreichbarkeit, Anonymität sowie die Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum eine Rolle.

    Welche Rolle spielen gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen?
    Lea Wirz: Gesellschaftliche und strukturelle Veränderung spielen eine Rolle. Beispielsweise verändern die Digitalisierung und der mit der Akademisierung einhergehende hohe Fachkräftebedarf die Ansprüche des Arbeitsmarktes an die Menschen. Migrationsbewegungen, Mietpreise und Gesundheitskosten spielen ebenso eine Rolle. Die Sozialhilfe ist daher immer in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen.

    Sind Personen mit Bildung und einer bestimmten Werterhaltung weniger von der Armut betroffen?
    Lea Wirz: Bildung ist ein wichtiges Mittel zum Erhalt der Arbeitsmarktfähigkeit. Es soll den Menschen helfen, ihre persönlichen und beruflichen Veränderungsprozesse zu gestalten. Menschen sollen also befähigt werden mit Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zurecht zu kommen, darauf zu reagieren und sich weiterzuentwickeln. Bildung kann also als wirksamer Schutz gegen Armut verstanden werden. Dies bedeutet aber nicht, dass Personen die sich weiterbilden bei persönlichen Schicksalsschlägen oder Stellenverlust nicht von Armut betroffen sein können.

    Was passiert mit Personen über 50 Jahre, die dauerarbeitslos geworden sind?
    Lea Wirz: Obwohl die Sozialhilfequote der über 50jährigen mit 2,3 Prozent tief ist, haben spezifische Auswertungen für den Kanton Baselland gezeigt, dass diese Altersgruppe die stärkste Zunahme über die letzten Jahre aufweist. Im Jahr 2017 bezogen im Vergleich zu sechs Jahren zuvor 57 Prozent mehr Personen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren Sozialhilfe. Auf Bundesebene gibt es Bestrebungen eine Überbrückungsrente für Personen ab 58 Jahren einzuführen. Zudem gibt es für Stellensuchende ab 50 ein Mentoringprogramm, angeboten vom KIGA und dem Verein benevol.

    Wie wird alleinerziehenden Müttern geholfen?
    Lea Wirz: Alleinerziehende tragen das grösste Sozialhilferisiko. Von allen Haushalten mit einer erwachsenen Person und mindestens einer minderjährigen Person bezogen im Jahr 2017 im Kanton BL gesamthaft 23 Prozent Sozialhilfe. Der Grund liegt meist darin, dass Alleinerziehende neben der Kinderbetreuung oft nur Teilzeit arbeiten können. Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe. Hier ist wichtig, dass die Gesellschaft und Politik die Nachteile dieser Kinder ausgleicht. Armut wird vererbt. Da muss man entgegenwirken mit früher Förderung, Mittagstischen, Aufgabenhilfen uns so weiter.

    Ein geschiedener Vater kann mit normalen Einkommen aber auch die Armutsgrenze erreichen.
    Lea Wirz: Das Gericht legt bei der Scheidung die Höhe der Unterstützungspflicht fest. Diese richtet sich nach der wirtschaftlichen Kraft des unterstützungspflichtigen Elternteils. Dabei wird ein Existenzminimum beachtet, damit dieser Elternteil nicht in die Sozialhilfe abrutscht. Verfügt der Elternteil bei dem die Kinder wohnen auch nach Erhalt der Alimente nicht über genügend finanzielle Mittel, trägt dieser die Mankokosten und muss, wenn nötig, Sozialhilfe beziehen.

    JoW/Daniele Ciociola
    Quellen: Caritas

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