Hilfe auf Abruf

    Revolution statt Evolution im Care-Bereich?

    Durch die steigende Lebenserwartung nimmt der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung zu, denn alten Menschen stehen immer weniger junge Menschen gegenüber. Der Bedarf an (jüngeren) Pflegefachkräften aus der erwerbstätigen Generation nimmt zu. Diese zahlt immer weniger in den Alters- und Pflegetopf, der immer mehr Personen finanzieren muss. Und das in einer Zeit, in der vieles günstiger wird, ausser der menschlichen Arbeit. Sagt der Basler Fachexperte Dr. Matthias Schweizer.

    (Bild: zVg)

    Die steigende Lebenserwartung korrespondiere jedoch nicht zwangsläufig mit steigendem Pflegebedarf, betont Matthias Schweizer (www.moncrier.ch). Trotzdem werde ein beachtlicher Teil der Senioren irgendwann auf (professionelle) Hilfe zuhause oder in einem Heim angewiesen sein. Und jede Generation von Pflegebedürftigen habe andere Ansprüche und Bedürfnisse als die vorhergehende und die nachfolgende. «Dies betrifft insbesondere auch die Pflegenden. Wie diese Unterstützung organisiert wird, wie viele Arbeitskräfte dafür gebraucht werden, ambulant oder stationär, mit welchen Qualifikationen oder Technologien und wie sie entwickelt, koordiniert und kontrolliert werden, wird kontrovers diskutiert. Experten sehen die Pflege in Zukunft nicht mehr als einseitig institutionell angeboten, sondern von den Bedürftigen spezifisch nachgefragt beziehungsweise gefordert.»

    Verstärkte Bedarfsorientierung
    Dr. Matthias Schweizer weiter: Dieser Paradigmenwechsel baut ökonomischen Druck auf, Überbau und Verwaltung zu reduzieren und die Ressourcen stärker auf die direkte Leistungserbringung zu fokussieren. Bereits die Digitalisierung ermöglichte eine ökonomische und soziale Dezentralisierung. Menschen, zu deren Alltag es gehört, Dienste «on demand» in Anspruch zu nehmen, werden versucht sein, dies auch in der Betreuung bzw. Pflege zu fordern. Die Zahlungsbereitschaft für indirekte Leistungen wird sinken und nur direkt erbrachte Leistungen werden honoriert werden.

    Zwang zur Flexibilisierung
    Grosse beziehungsweise schwerfällige Institutionen und Infrastrukturen ohne flexible und spezialisierte Angebote würden, so der Experte weiter, im 21. Jahrhundert mit grosser Wahrscheinlichkeit in existentielle Schwierigkeiten geraten. Werden sie nicht mehr den speziellen Erfordernissen von Menschen gerecht und/oder können die technologischen Anforderungen nicht erfüllen, werden besser an die Bedürfnisse angepasste Institutionen bevorzugt. Da viele Organisationen im Sozial- und Gesundheitswesen eng mit öffentlichen finanzstarken Einrichtungen vernetzt sind, wird durch den Strukturwandel ein starker Konkurrenzkampf ausgelöst.

    Neue Technologien
    Schweizer betont zudem: Auch wenn direkte menschliche Zuwendung nicht digitalisierbar ist, bleiben genügend Bereiche, die digitalisiert werden könnten oder durch die Digitalisierung überhaupt erst möglich werden. Jede neue digitalisierte Aufgabe, bietet die Chance auf neue Arbeitsplätze bzw. Geschäftsmodelle. Bspw. hat die Ausbreitung des Internets Kommunikations- und Kontrollmöglichkeiten geschaffen, die pflegebedürftigen Menschen ein längeres Verweilen in der eigenen Wohnung ermöglicht. Hardware- (Kraftverstärker für die Umlagerung), Software- (Sensoren für die Messung von Biodaten) und institutionelle Lösungen (vernetzte Nachbarschaftshilfe) verringern die Abhängigkeit von Care-Anbietern. Jedoch wird professionelle Pflege weiterhin nötig sein, unter anderem für Übergangspflege nach einem Spitalaufenthalt, bei Demenz oder Depressionen.

    Individuelle Betreuung
    Neue Technologien verändern die Beziehung zwischen Pflegern und Gepflegten nicht. Was sich verändert, sei die Art und Weise, wie die Bedürfnisse befriedigt werden, sagt Dr. Schweizer. Entsprechend würde sich der Veränderungsdruck stärker auf das institutionelle Gefüge auswirken als auf die eigentliche Leistungserbringung. Zentrale Faktoren sind das Angebot an qualifizierten Fachkräften, sowie Massnahmen zur Produktivitätssteigerung, die auf die Reduzierung des Personalbedarfs abzielen.

    Matthias Schweizer weiter: Der Wunsch der grossen Mehrheit der Pflegebedürftigen, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung leben zu können, kann durch den technischen Fortschritt immer häufiger und länger erfüllt werden. Eine 24/7-Betreuung, die zumindest potenziell jederzeit individuelle Hilfe leisten kann, ist technisch in Reichweite. Das Geheimnis des Erfolgs wird sein, die Dienstleistung dort zu erbringen, wo sich der Nachfrager aufzuhalten wünscht.

    JoW

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